Formende Formlosigkeit
von Armin Hauer
Folien und Kunstharzlacke sind seit gut 7 Jahren die bevorzugten Arbeitsmaterialien von Enrico Niemann. Die Folien wurden einzeln bemalt und übereinandergelegt, so dass sich ein vielschichtiges Bild ergibt, wie zum Beispiel in der Arbeit »Dicker Bauch« (2005). Später geht er immer stärker auf die ästhetische und materielle Spezifik dieses ungewöhnlichen Werkstoffes ein. Das geschieht Schritt für Schritt. 2007 entsteht eine im Raum installierte mehrschichtige Folie mit dem Titel »Farbkörper«. Darauf ist ein geschlachtetes Tier (Ochse?) zu erahnen, das wie gehäutet wirkt oder so, als wenn man durch die Haut hindurchsehen könnte. Die aufgetragenen Farben erscheinen verwässert und rosig fahl. Sie erinnern an die Verletzlichkeit des Leibes. Die Morphologie ist wellig zerbeult und lässt sofort an hängende und gehäutete Körper denken, die wiederum beim Betrachter emotionale Ambivalenz und ethische Vorurteile hervorrufen könnten. Der Titel jedoch weist auf eine weitere Diskrepanz hin: auf den Körper und auf die Farbe. Das Licht hinterfängt die Folie und der massiv anwesende, räumliche »Scheinkörper« wird durchleuchtet. Er verliert seine Materialität, ohne sie zu verleugnen. Das Paradoxe geschieht: die Anwesenheit und die Abwesenheit der Physis im gleichen Moment. Das Pathos des Geschundenen, vielleicht sogar das des Opferns, man kann auch an die Schlachtperformances von Hermann Nitsch denken, scheint für Momente auf. Es ergibt sich eine Bedeutungssteigerung des Leibes und zugleich dessen ästhetische Sublimierung mittels des wahrhaftigen KunstStoffes. Ist das ein Memento mori oder eine eigenwillige Reminiszenz an die Vanitasbilder vergangener Jahrhunderte?
Der »Farbkörper« scheint mir eine künstlerische Wendemarke zu markieren. Von hier aus konnte sich der Künstler weiter um die Physis kümmern, sie in einen dramatischen oder weniger dramatischen Subtext einer Erzählung vom Werden und Vergehen einspannen. Oder er konnte sich intensiver für die Materialität der Kunststoffe und der Farbe interessieren, ihrem »Wesen« nach gehen. Das würde bedeuten, er verzichtet auf die Nutzung des Materials für eine Abbildhaftigkeit und konzentriert sich auf Form und Farbe, auf physikalische Reaktionen von weichen Materialien.
Für die letztere Strategie entschied er sich. Diese Wende, fort vom Abbildhaften und Gleichnishaften hin zum prozesshaften Untersuchen und Erforschen, vollzog sich in seinem Werk mit dem Ende des Jahrzehnts. Aspekte von Schein und Sein, vom illusionistischen Darstellen und vom auf sich selbst verweisenden Malgrund, fließen in den darauf folgenden Werken ein. Dabei tangiert er zudem Problemstellungen der konstruktiven und konkreten Kunst und die der Farbmalerei schlechthin, wie zum Beispiel das Verhältnis von Figur zum Grund, die Entgrenzung des Bildkörpers und eine Aufhebung von Oben und Unten durch das Allover.
Mittels der Verwendung von durchsichtigen, mal mehr und mal weniger dicken Folien ist eine visuelle und eine materielle Räumlichkeit an sich schon vorhanden. Auch wenn die Arbeit für die Wand konzipiert ist, ergibt sich eine Dreidimensionalität. Wurde erst einmal diese generelle Entscheidung für die Struktur des Materiellen getroffen, kann er sich nun den prozesshaften Bearbeitungstechniken, die sich gewissermaßen in ihrem Werden selbst dokumentieren, widmen. Perforieren, Knicken, Stauchen, Dehnen, Schichten – sie prägen das Äußere und das Innere der Arbeiten. Die Farben werden aufgetragen, manchmal getröpfelt oder er überlässt sie einem gewissen Prozess des gesteuerten, zufälligen Fließens. Das äußere Format meidet das Viereck – und prinzipiell entsteht der Eindruck eines Ausschnittes von einem nicht anwesenden, aber dennoch vorhandenen Ganzen. Man kann an fraktale Strukturen denken oder man wird an ein starkes Heranzoomen an ein Objekt erinnert. Dabei wird nichts mehr in seiner Eindeutigkeit belassen. Beim Aufbau in den verschiedenen Räumen kann sich die Anordnung von Bodenplastiken dermaßen ändern, dass sich eine neue« Form ergibt. Ebenso bedingen die übereinandergeschichteten Folienlagen ein subtiles Oszillieren der an sich schon nicht so leicht zu bestimmenden regenbogenartig wässrigen Farbnuancierungen. Grafische Elemente wie Streifen, Gitter, Getröpfeltes, Schrammen, Schlieren und Schrundiges bilden aufgrund der Folienstärke oder ihrer Schichtungen überraschende Antimuster, deren Logik nicht mehr nachvollziehbar ist. Mittels Überlagerungen der Bildschichten kommt es zu konterkarierenden Momenten im Bildhaften – Eindeutiges ist nun die Seltenheit.
Enrico Niemann zählt mit seinem eigenwilligen Werk zu den Künstlern in Deutschland, die sich wieder mit der abstrakten Kunst befassen, ohne eine ästhetische oder ideologische Polemik vom Zaun brechen zu wollen.
Armin Hauer, Kunsthistoriker, Frankfurt (Oder) 2013